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Das Hirtenbüblein |
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Es war einmal ein Hirtenbüblein, das konnte nicht einmal schreiben und nicht lesen. Das Büblein lebte hoch auf dem Berg oben und hütete dort seine Ziegen und Schafe.
Nur selten sah es Menschen. Aber es war mit den Tieren gut Freund, und es kannte alle Blumen und Kräuter ringsum. |
Wenn die Sonne aufging, sah das Hirtenbüblein die Berge rosig aufleuchten, zu Mittag glitzerten die Schneefelder, und abends kamen die blauen Schatten und brachten die
Nacht. Das Büblein kannte den Mond gut und sah oft in sein freundliches Gesicht. Es sah die Sterne wandern und glitzern. Und die Nacht hatte viele Geräusche, und wenn ein Ast knackte oder
ein Stein rollte, klang das anders als bei Tag. |
So lernte das Büblein die Sprache der Dinge verstehen, zwischen denen es lebte. Der Wind pfiff durch ein Loch im Hüttendach und sagte ihm, das Dach müsse geflickt
werden. Von den Wolken am Himmel erfuhr er, wie das Wetter sein würde und ob ein Gewitter käme. Von Blumen und Kräutern, von den Vögeln und den Murmeltieren lernte das Büblein alles, was
sie selber wussten. Und zu all dem fand es in seinem eigenen Kopf allerhand Merkwürdiges, und das waren Träume und Gedanken. |
Manchmal kamen Menschen zu dem Hirtenbüblein herauf. Und weil es einmal so ernsthaft und nachdenklich dasaß und dann wieder so lustig mit seinen Ziegen herumsprang, fragte
der eine oder andere das Büblein. Was denkst du dir so, Hirtenbüblein, wo du doch allein da heroben bist! Ist dir nicht langweilig? |
Nein , antwortete das Hirtenbüblein. |
Einmal sagte einer: Guckst du Löcher in den Himmel? Was ist denn dahinter? |
Das müsst ihr den Adler fragen , antwortete das Büblein. Der fliegt so hoch, bis er nur noch ein kleiner Punkt ist. Vielleicht hat der was gesehen! Fragt ihn doch! |
Und immer, wenn ihn jemand was fragte, antwortete das Hirtenbüblein auf seine Art. |
Dem König im Land kam es zu Ohren, dass da ein Hirtenbüblein wäre, das noch keine Schule gesehen hätte und doch so treffliche Antworten wüsste. Aber der König glaubte das
nicht. |
Er lies das Büblein holen. Als es vor ihm stand, sagte der König: Wenn du mir auf drei Fragen die Antwort geben kannst, die noch kein Weiser mir sagen konnte, dann
will ich dich ansehen wie mein eigenes Kind, und du sollst bei mir im Schloss wohnen. |
Da sprach das Büblein: Wie lauten die drei Fragen? |
Der König sagte: Wie viele Tropfen sind im Weltmeer? |
Das Hirtenbüblein antwortete: Herr König, lasst alle Flüsse auf der Erde verstopfen, damit kein Tropfen daraus mehr ins Meer laufen kann, dann will ich euch sagen, wie
viele Tropfen im Meer sind. |
Sprach der König: Wie viele Sterne stehen am Himmel? |
Das Hirtenbüblein sagte: Gebt mir einen großen Bogen weißes Papier! Und es nahm eine Feder und tupfte mit der Feder so viele feine Punkte auf das weiße Papierblatt,
dass einem die Augen vergingen, wenn man nur hinsah. Darauf sprach es: So viele Sterne stehen am Himmel als Punkte auf dem Papier! Zählt sie nur! |
Aber das konnte niemand, der König nicht und auch sonst niemand. |
Und nun die dritte Frage , sagte der König. Wie viele Sekunden hat die Ewigkeit? |
Da antwortete das Hirtenbüblein: In einem fernen Land liegt der Demantberg, der misst eine Stunde in die Höhe, eine Stunde in die Breite und eine Stunde in die
Tiefe. Dahin kommt alle hundert Jahre ein Vöglein und wetzt sein Schnäblein daran. Wenn der ganze Berg abgewetzt ist, dann ist die erste Sekunde der Ewigkeit vorbei. |
Da sprach der König: Du hast mir geantwortet wie ein Weiser und sollst fortan bei mir im Königsschloss wohnen, und ich will dich ansehen wie mein eigenes Kind. |